Peter Weibel, seit 1999 Vorstand des ZKM in Karlsruhe, führt in seinem Beitrag im Jahrbuch 2007 der Guernica-Gesellschaft zum Thema „Politische Kunst heute“ aus, dass Kunst nicht der wahre Spiegel der Gesellschaft ist. Freuds psychoanalytischem Modell der Repräsentation des Unbewussten folgend, betont er das Merkmal der Kunst, neben dem bewusst Wahrgenommenen auch Unbeachtetes und Verdrängtes zu repräsentieren.
Genau dies ist bei den Arbeiten der Künstlerin Esra Ersen zu finden. Ihre Werke leiten den Blick auf Randgruppen und Menschen, in schwierigen Lebenssituationen. Durch ihren klaren, den Moment nicht wertenden Blick sind ihre Arbeiten durchaus als Spiegel von sozio-politischen Gegebenheiten der Gesellschaft zu sehen. Aber der Betrachter ist aufgefordert, nicht vor dem einen Spiegel der bewusst erlebten Welt stehen zu bleiben. Er ist eingeladen, sich in einem Spiegelkabinett zu bewegen und verborgene, verdrängte, unbewusste Aspekte wahrzunehmen. Dies wird besonders deutlich in dem Film Perfect /Growing Older (Dis)Gracefully (2006). Die Künstlerin begleitet die sympathische, alte Frau Helen in ihrem Liverpooler Zuhause. Helen erzählt aus ihrem Leben und lässt den Zuschauer an aktuellen Ereignissen teilhaben. Vor der Kamera vollzieht sich langsam eine Veränderung mit Helens äußerer Erscheinung, die durch eine Beratung bei einer Stylistin vorangetrieben wird. Am Ende spaziert sie, ausgestattet mit Perücke, Minirock und Schuhen mit hohen Pfennigabsätzen, durch die Straßen ihrer Stadt. Und auch wenn sie Spaß an den Veränderungen hat, nimmt man ihr die neue Erscheinung doch nie ganz ab. Immer ist die nette, alte Dame zu spüren, die einen zu Beginn des Films begrüßt hat.
Esra Ersen thematisiert den Prozess der Regeneration. Die von außen gelenkten (Stylistin) Veränderungen von Helen sind eine Metapher für die ebenfalls durch Entscheidungen einer höheren Instanz herbeigeführten Veränderung der Stadt Liverpool. Im Zuge der Bemühungen, zur Europäischen Kulturhauptstadt ernannt zu werden, kam es zu radikalen Veränderungen des Stadtbildes. So wie Helen durch die Stylistin scheinbar eine neue Identität verpasst bekommt, versprachen Regierung und Stadtplaner eine neue Identität für Liverpool. Wie bei Helen geht es nur um die Erneuerung des äußeren Erscheinungsbildes, die innere Struktur der Stadt bleibt bestehen.
Die Videoarbeit Reisende (2009) wurde durch einen Zeitungsartikel angeregt, der von Menschen berichtet, die seit vierzig Jahren in Istanbul leben, aber noch nie den Bosporus gesehen haben. Esra Ersen begleitet eine Gruppe Frauen auf ihrem ersten Weg zur Meerenge. Auch sie lebten zuvor mehr als dreißig Jahre in Istanbul, ohne ihren Bezirk jemals verlassen zu haben.
Das Werk besteht aus zwei Leinwänden: Der eine Film zeigt, wie die Frauen gemeinsam mit ihren Kindern und einigen männlichen Verwandten mit dem Bus durch die Straßen Istanbuls bis zum Ufer des Bosporus fahren. Auf der anderen Leinwand zeigt die Künstlerin Straßen und Häuser des Wohnbezirks der Frauen.
Den Frauen ist es möglich, im Rahmen von Esra Ersens Aktion ihre Alltagsstruktur zu durchbrechen. Die Künstlerin greift damit direkt in das Leben der Protagonistinnen ein. In einem zweiten Schritt dokumentiert sie den Weg zur Meerenge, die Ankunft am Ufer und das Bild des Wohnbezirks als stille Betrachterin. Die Bilder zeigen einen Aspekt der Realität der Frauen, die gebunden an Familie und Haushalt ein räumlich stark eingegrenztes Leben führen. Die Fahrt zum Bosporus wird zur Metapher für neue Wege, die den Frauen offen stehen.
Esra Ersens Arbeiten zeichnen sich durch einen intimen Blick auf soziale Phänomene der Gesellschaft aus. Ihre Arbeitsweise ermöglicht es der Künstlerin, scheinbar feststehende Strukturen zu öffnen und Verborgenes und Verdrängtes zu thematisieren.
Am 05. September 2005 wurde Esra Ersens erste Einzelausstellung in Berlin eröffnet. Noch bis zum 28. November 2009 sind ihre Arbeiten im Projektraum TANAS in der Heidestraße 50, 10557 Berlin, zu sehen.
http://www.tanasberlin.de/index.php?nav=vorschau
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